Drei kurzweilige Stunden

Kaum noch Platz bot der Altarraum von St. Maria: Das Konzert am Sonntagabend war zudem hervorragend besucht
Foto: Simone Ruchay-Chiodi

Beeindruckende Aufführung der Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach durch die verstärkte Böblinger Kantorei in St. Maria Zwei Chöre, zwei Orchester, sechs Solisten und knapp drei Stunden Dauer: Die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach ist ein musikalischer Gigant. Was die Böblinger Kantorei mit Unterstützung des Cantus Basel und dem Ensemble La Banda aus Augsburg am Sonntag darbot, geriet zur bewegenden und bewegten Darbietung.


Von Boris Belge
Mit freundlicher Unterstützung der KREISZEITUNG Böblinger Bote

BÖBLINGEN. Es ist unmöglich, diesem Konzertereignis in wenigen Zeilen gerecht zu werden. Die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach gilt als ein, vielleicht sogar der Höhepunkt der Passionsvertonungen. Sie ist überreich an Symbolen und Bezügen und war zudem der Ausgangspunkt der Bach-Renaissance im 19. Jahrhundert. Auch die Interpretationsmöglichkeiten scheinen unbegrenzt.
Die Böblinger-Basler Fassung, die am Sonntagabend vor großem Publikum in St. Maria dargeboten wurde, erwies sich als enorm vielgestaltig – rauschende Tutti-Passagen, herausragende solistische Leistungen und zarteste Pianoteile prasselten auf die Zuhörer ein. Der Erfolg des Abends verdankte sich in jedem Fall vier wichtigen Faktoren: dem Lösen einer organisatorischen Herkulesaufgabe, der historisch informierten musikalischen Darbietung, hochwertigen Einzelleistungen und der akribischen Klangarchitektur.

Organisation: Allein der Aufmarsch des Chores dauerte einige Minuten. Böblinger Kantorei und Cantus Basel füllten den Altarraum der Kirche St. Maria bis auf den letzten Quadratzentimeter und präsentierten sich als großes homogenes Klangorgan. Davor postierte sich La Banda Augsburg, in zwei Orchester aufgeteilt. Zuletzt nahmen Kantor Eckhart Böhm und Walter Riethmann aus Basel  an zwei Dirigierpulten Platz, um sich in den folgenden drei Stunden Dirigat und Leitung der Klangkörper zu teilen. Während Riethmann noch den Schlussakord eines Rezitativs abwinkte, stimmte Böhm den Chor schon auf den nächsten Choral ein. Dirigierte der eine, blieb der andere hellwach und mit den Augen auf Partitur und Ensemble gerichtet. Das Dirigat war hier keine One-Man-Show eines alleinherrschenden Orchesterleiters, sondern partnerschaftliches und umsichtiges musikalisches Anleiten.

Orchester: Das Programmheft versprach bereits, La Banda Augsburg musiziere auf historischen Instrumenten. Musikerinnen und Musiker hinter den Pulten nahmen Streichinstrumente mit Darmsaiten, Barockoboen und Traversflöten in die Hände. Energisch schliffen sie an einer musikalischen Sprache, die an Transparenz, Lebendigkeit, Pointierung und großen Bögen interessiert war. Das Publikum erlebte historische Aufführungspraxis von ihrer  besten Seite. Sie tauchte das Werk in unterschiedliche Stimmungen und Schattierungen, die drei Stunden Musik ausgesprochen kurzweilig werden ließen.

Solisten: Bachs Matthäus-Passion ist erzählter und gedeuteter Bibeltext. Sie lebt davon, wie sehr es den Solisten gelingt, zu erzählen und Gefühle zu transportieren. Tino Brütsch bestach als Evangelist durch messerscharfe Deklamation und Geschmeidigkeit im Vortrag, Thomas Scharr überraschte als Christus-Bariton immer wieder mit abgrundtiefer Energie, wenn er einzelne Schlüsselwörter wie „verraten“ und „verleugnen“ fokussierte. Eleonore Majer (Sopran), Sarah- Lena Eitrich (Mezzosopran), Maximilian Vogler (Tenor) und Bernhard Hartmann (Bariton) luden die Arien, musikalische Zentren der Passion, mit je eigenen Klangvorstellungen auf, stellten ihre Virtuosität und Ausdrucksstärke aber stets in den Dienst der Gesamtaufführung.

Klangarchitektur: Der Eingangschor „Kommt ihr Töchter, helft mir klagen“ stimmte bereits darauf ein, dass beide Gesangsensembles ihre Hausaufgaben gewissenhaft gemacht und einige Überstunden eingelegt hatten. Dringlich und intensiv deklamierten Cantus Basel und Kantorei das Wehklagen, ohne sich in romantischer Gefühlsduselei zu verlieren. Die Choräle waren keine Pflichtübung, sondern selbst Teil der Werkinterpretation. Das chorale Zentrum der Passion – Paul Gerhardts „O Haupt voll Blut und Wunden“ – war so zwischen den einzelnen Strophen ausdifferenziert, klang mal energisch-mächtig, mal zurückhaltend hilflos. Als die letzten Takte des Schlusschores verklungen waren, baten die Aufführenden um einige Minuten der Stille. Publikum und Akteure brauchten sie auch, um zu reflektieren, was sie gerade erlebt hatten. Die Matthäus-Passion gehört sicherlich bereits jetzt zu den absoluten Höhepunkten des Böblinger Konzertjahres.