Erstes und letztes Konzert von Michael Stadtherr mit der Kantorei in der Stadtkirche
Ausgewogen mit Frauenpower


Von Bernd Heiden, Mitarbeiter der SZBZ
Mit freundlicher Unterstützung der Sindelfinger Zeitung / Böblinger Zeitung


BÖBLINGEN:
Mit einem Kantatenkonzert gab Michael Stadtherr gleichzeitig seinen Konzert-Einstand wie -Ausstand mit dem Chor der Böblinger Kantorei. Auf dem Programm standen zwei für den Großmeister der Kirchenmusik Johann Sebastian ganz untypische Kantaten und die berühmte Mendelssohn-Kantate „Wie der Hirsch schreit“.

Dieses gut besuchte Konzert in der Stadtkirche war tatsächlich das erste und einzige, das der Vertreter von Stadtkantor Eckhart Böhm als Leiter der Böblinger Kantorei dirigierte. Beim Konzert im Frühjahr hatte er sich noch aufs Orgelspielen beschränkt. Im August endet nun bereits Michael Stadtherrs Böblinger Gastspiel. Er wird als Bezirkskantor für den Landkreis Esslingen nach Plochingen gehen.

So ungewöhnlich eine Dirigentenpremiere sein dürfte, die gleichzeitig Abschiedsvorstellung bedeutet, so wenig alltäglich war das Programm dieses Konzerts. Zwar war mit zwei Bachkantaten fast schon „business as usual“ für ein evangelisches Kantorat angekündigt. Aber die BWV-Werknummern 150 („Nach dir, Herr, verlanget mich“) und 51 („Jauchzet Gott in allen Landen“) stehen nahezu als Unikate im gewaltigen Kantatenschaffen Bachs da. So dass im Fall der Nummer 150 die Musikwissenschaft auch wegen der Überlieferungssituation schon Zweifel angemeldet hatte, ob es sich auch wirklich um einen echten Bach handelt.

Ihre vielen, ganz kleinteilig komponierten Chorsätze klingen wie so recht nicht Fisch, nicht Fleisch, brechen ihren Weg in den Kontrapunkt oder den Konzertsatz unvermittelt mit der Homofonie ab und vice versa. Auch fehlt die Choralvertonung. Allerdings erhebt der andere Teil der Musikgelehrten auch den Zeigefinger: Das entspreche dem motettischen Frühstil Johann Sebastian Bachs. Bei der Solokantate für Sopran „Jauchzet, Gott“ dagegen ist die Instrumentalbesetzung mit einer Trompete, Streichern und Continuo einmalig.

Wissenschaft hin oder her, die Kantorei überrascht bei der Chorkantate mit vollkommen ausgewogener Besetzung und einem extrem mächtigen Klangbild. Fürs ausgewogene Klangbild hat Michael Stadtherr fünf Zusatz-Männerstimmen engagiert, von denen vier im späteren Mendelssohn-Quintett solistisch gefragt sind. Und der Klangkraft greift insgesamt auch der Hall der Stadtkirche unter die Arme: So erfreulich wie die Kantorei sich damit auch präsentiert, die Detailliertheit des Gesangs in der großen Chorbesetzung, die fließt mit dem Hall auch dahin und Bach bekommt ganz ungewollt ein romantisches Fluidum.

Eine zu Bachs Zeiten möglicherweise mit Kirchenbann, Kerkerhaft oder noch Schlimmerem geahndete Szenerie bietet die Solo-Kantate. Das bei damaligen Kirchenkonzerten üblicherweise unter Auftrittsverbot stehende schwache Geschlecht rückt nicht nur mit Solosopranistin Catherina Witting, sondern auch noch mit Elisabeth Fessler in den Mittelpunkt. Die spielt Trompete. Im Barock ungefähr so, als ob Frau Papst wäre. Ob Frau jemals Papst kann?

In dem virtuosen, ganz leicht gespielten Trompetenpart jedenfalls beweist Elisabeth Fessler, dass Frau unerhört Trompete kann. Und auch wenn für Puristen der historischen Aufführungspraxis Sopranistin Catherina Witting wohl nicht die allererste Bach-Wahl wäre, mit fülligem, weichem, zu Energischem wie Detailzeichnung fähigem Sopran glänzt auch sie in dieser bis ins Artistische und bis zu c-dreigestrichen reichenden Nummer. Bach muss schon einen ganz tollen Knaben gehabt haben.

Das zu Bach professionell aufspielende Instrumentalensemble wird zum Finale mit Felix Mendelssohn-Bartholdys Hirsch-Kantate nochmals um Bläserfarben aufgestockt. Aber nicht nur ein Horn, auch die Kantorei sorgt hier nun so robust wie mit Sinn für Behutsamkeiten für den Romantik-Sound, der die Barockmusik noch leicht verfärbt hatte und beschert Michael Stadtherr so schöne Premiere wie Abgang.

Mehr Informationen über die Böblinger Kantorei gibt es unter der Adresse www.boeblingerkantorei.de im Internet. Auf „Youtube“ gibt es kurze Konzertausschnitte der letzten Jahre.