Mendelssohns "Paulus" in der Marienkirche
Oratorium mit großer dramatischer Kraft
Böblinger Kreiszeitung vom 29.Juni 2004

Böblingen - Kräfte kann man nur bündeln, wo sie vorhanden sind: Die Böblinger Kantorei und der Chor des Albert-Einstein-Gymnasiums (Einstudierung Johannes Stephan) addierten sich sehr positiv, um zusammen mit vier Solisten und der Camerata viva aus Tübingen einen brillant organisierten und funktionierenden Aufführungsapparat zu bilden. Die Leitung hatte Tilman Jäger. Eine Aufführung gerade dieses Paulus-Oratoriums mit Bildern und Szenen der Bibel setzt eine vielleicht sorgsamere und detailgenauere Vorbereitung voraus als bei anderen Werken. Hier geht es nicht allein um die technische Bewältigung der Partitur, sondern um die intimen Dimensionen eines gläubigen Bekenntnisses, um erlebnisreiche Innenspannungen bei der Darstellung des Geschehens und um das bezwingende Gefühl, die vielen Hörer mit der unglaublichen Aussagekraft des Paulus-Stoffes in Bann ziehen zu können. All das ist der sehr zügigen, prachtvollen Aufführung am Sonntag in der vollbesetzten Marienkirche gelungen. Da man keine Kürzungen vorgenommen hatte, dauerte die reine Musik-Zeit rund zweieinhalb Stunden, eine physische und psychische Leistung aller Mitwirkenden, vor allem der Sänger, die stehen mussten.

Die Handlung vollzieht sich in zwei großen Abschnitten, in denen das Leben des heiligen Stephanus, insbesondere seine Verleumdung und Steinigung, sowie die Bekehrung des Saulus von Tarsus zum Apostel Paulus geschildert wird. Saulus ist erst einer der wütendsten Gegner des Christentums, er wird jedoch durch das Wirken Gottes zum eifrigen Verfechter des neuen Glaubens. Als Paulus zieht er zusammen mit Barnabas durch die Lande, um andere zu bekehren. Das aufgebrachte Volk fordert seinen Tod, der nur mit Hilfe des Herrn vereitelt wird.

Die beiden Chöre hatten eine intensive Probenarbeit hinter sich. Man sang mit stimmlicher und musikalischer Potenz, mit darstellerischer Natürlichkeit und einem großen Maß an Durchsichtigkeit. Die Chorszenen der Juden und Heiden, von Mendelssohn bewusst harmonisch und melodische schlicht gehalten, gaben sich dramatisch akzentuiert. Die polyphonen, romantischen Chorsätze aber atmeten plastische Gestaltungskraft und Größe. Man war allen Steigerungen gewachsen und hatte doch die Kraft und den Mut zum absoluten Piano und zur verhaltenen Ruhe. Der Chorklang behielt auch in den Fugen seine Festigkeit durch die Sicherheit der einzelnen Stimmgruppen. Die eingestreuten Choralsätze gaben sich als feste Pfeiler des Glaubens.

Mit heller Gelöstheit und doch verinnerlichter Bewegung gestaltete Isabelle Müller-Cant die Sopranpartie. Die kleinen Aufgaben des zweiten Soprans meisterte Patrizia Sonntag, noch Schülerin am AEG, mit schöner Stimme und Wärme. Andreas Weller war der ideale Deuter des biblischen Textes, seine Rezitative beeindruckten nicht nur stimmlich, sondern auch in der Behandlung des Wortes. Die Duette mit dem Bassisten Dominik Hosefelder wurden zu gestalterischen Glanzpunkten. Der noch junge Sänger setzte für seine Partie eine sehr wandlungsfähige, prachtvoll timbrierte Stimme ein. An den Pulten des groß besetzten Orchesterapparates saßen Mitglieder der Camerata viva Tübingen, die die Partitur mühelos beherrschten und umzusetzen wussten. Hier gab es kaum Schwächen oder Unsicherheiten, es wurde mit großem Deutungswillen und farbiger Strukturierung musiziert.

Tilman Jäger bemühte sich erfolgreich, den pathetischen Grundzug außen vor zu lassen. Ohne innere Anteilnahme und emotionelle Intensität aber geht es nicht und so erlebte man eine Aufführung mit dramatischer Kraft und einer höheren interpretatorischen Gerechtigkeit, die auch Gefühlsüberschwang, Schönklang, Spannung und Atmosphäre durchaus zuließ. Jägers umsichtige Leitung wurde von den vielen Sängern und Musikern bestens verstanden.

Viel Applaus im vollen Schiff der Marienkirche. Böblingen hatte einen musikalischen Höhepunkt. Wie lange wird Tilman Jäger nach seinem Weggang nach München die Weichen hier noch stellen können zu weiteren Konzerten auf solchem Niveau?