Böblingen: Kantorei mit Paulus-Oratorium unter Leitung von Prof. Tilman Jäger in St. Maria
Lyrisch zart und giftig wild
SZBZ vom 29.Juni 2004 (Bernd Heiden)

Ein Fusionschor aus Böblinger Kantorei und Chor des Albert-Einstein-Gymnasiums (AEG) unter der Leitung von Professor Tilman Jäger bewies mit einer Aufführung des Oratoriums Paulus von Felix Mendelssohn-Bartholdy in der Böblinger Marienkirche sehr eindrucksvoll, auf welch hohes Niveau Jäger die Böblinger Chormusik wieder geführt hat.

Vor allen musikalisch-stilistischen Fragen wurde auch bei dieser Aufführung wieder der eindeutige Beweis geführt, dass eine funktionierende Chorarbeit gerade bei den romantischen Werken damit steht und fällt, ob die Leiter es verstehen, eine ausreichende Anzahl von Kehlen zu mobilisieren. Auch das Programmheft erinnerte daran. So brachte 1836 Mendelssohn bei der Uraufführung des Oratoriums 356 Chorsänger auf die Bühne.

Noch vergleichsweise klein wirkte da die Schar der knapp 90 Sänger und Sängerinnen des Fusionschors aus Kantorei und AEG-Chor (Einstudierung Johannes Stephan). Dennoch, der Chor brachte mehr als ausreichend stimmliche Pfunde auf die Waage, um allen Anforderungen des Werkes gerecht zu werden, das entlang der Apostelgeschichte die Wandlung vom Christenverfolger Saulus über das Damaskuserlebnis zum missionierenden Paulus zum Inhalt hat.

Bemerkenswert dabei, wie es diese Interpretation Jägers verstand, den historizistischen Charakter des Paulus zu verdeutlichen. Zur Erinnerung: Mendelssohn hatte mit der Wiederaufführung von Bachs Matthäus-Passion 1829 die Bach-Renaissance eingeläutet und war auf musikalischem Gebiet damit einer der Impulsgeber für das, was sich in allen anderen Kunstsparten als Epochensignum des 19. Jahrhunderts herausschälte, die Rückwendung auf die Historie. Von Kritikern wurde Mendelssohn nach der Uraufführung des Paulus denn auch abgegrätscht. Er habe zu sehr auf die Oratorienmodelle eines Bach und Händel zurückgegriffen.

Diese Anlehnung an die barocken Vorbilder machte der Chor nicht nur in erschreckenden Volkszornchören à la Bach hörbar, sondern vor allem indem er die Kleinteiligkeit der Mendelssohnschen Kontrapunkte auch durch behutsame Betonungsschwerpunkte im Hörbaren ließ: Das Werk ersoff nicht im romantisch langbogigen Einheitsbrei. Andererseits atmeten viele Choräle im Zeitlupentempo echt romantisches Flair, auch die lyrischen Chorsätze verströmten diese rührende Mendelssohnsche Innerlichkeit, die Gehässige dem Komponisten als Kitsch ankreiden.

Es versteht sich von selbst, dass dies alles nur klappt, sofern der Chor exzellent ausgewogen und homogen in allen dynamischen Stufen und Stimmgruppen klingt, die Klangsubstanz im Behutsamen wahrt und dennoch aufbrausend, leidenschaftlich, giftig und wild sein kann. Große Klasse bewies der Chor etwa in Nummer 29, wo er vom leisen, denunziatorischen Gerüchtetuscheln zum geifernden Massenmobbing überging mit der Aufforderung, Paulus zu beseitigen. Allein die vielen "s"-Konsonanten im dritten Choral kamen etwas scharf rüber.

Zum guten Chor gesellte sich ein stilistisch prima zueinander passendes Solistenquartett mit Durchsetzungsfähigkeit aber auch lyrischen Qualitäten. Bassist Dominik Hosefelder als Saulus-Paulus mit einer edel-warmen, mit baritonalem Schmelz begabten Stimme entfaltete sich naturgemäß besser im Paulus- statt im dröhnenden Sauluspart. Tenor Andreas Weller realisierte bemerkenswert deutlich und beweglich die emotionalen Wechselbäder, im Stephanus-Rezitativ bemühte er allerdings die pure Kraft. Sopranistin Isabelle Müller-Cant stets angenehm trotz dramatischem Volumen. Vom hellen, momentan noch lyrischen Alt des Nachwuchstalents Patrizia Sonntag darf man in Zukunft noch einiges erwarten.

Präzise, aufmerksam und technisch beschlagen präsentierte sich das Tübinger Orchester "Camerata viva", das bei Bedarf sowohl die rhythmische Substanz so überzeugend wie die romantisch geschwungene Phrase herauszuarbeiten vermochte.