Böblinger Kantorei singt "Matthäus-Passion"
/ 14.April 2003 / Böblinger Kreiszeitung

Präziser Leidensbericht

Böblingen - Hört man "Matthäus-Passion", denkt man Johann Sebastian Bach. Vergessen wird dabei, dass es vor und neben Bach in Deutschland eine langjährige und reiche Tradition der Passionsvertonungen gab. Die Musikalisierung des Leidens und Sterbens Christi pflegte etwa Georg Philipp Telemann in Vierjahresplänen im Wechsel der Evangelien. Zu den ältesten Passionen gehören die Vertonungen von Heinrich Schütz. Im Gegensatz zum zwei Generationen später entstandenen Werken Bachs und Telemanns stehen die Passionen von Schütz deutlich näher am Vorbild der alten Passionslesungen. Schütz verzichtet auf Instrumente, lässt Chor und Soliloquenten unbegleitet singen. Ausdeutende, reflektierende Momente, wie sie Bach in kunstvollen Arien pflegte, fehlen ganz. Diesen nackten, nüchternen Bericht der Matthäus-Passion führte am Samstag Abend in der nicht übermäßig besuchten Stadtkirche die Böblinger Kantorei auf.

Herzstück jeder Aufführung ist der Evangelist. Schütz hat für ihn psalmodierende Noten gesetzt, die eng am Sprechduktus orientiert sind, sich kaum melismatische Freiheiten gönnen. Das schlichte Wort steht unausgeschmückt, beinahe nackt und schutzlos im Raum. Desto größer ist die Aufgabe für den Evangelisten, diesen Bericht spannungsreich und mitleiderweckend zu gestalten. In Hans-Joachim Weber hatte die Böblinger Aufführung einen genialen Evangelisten. Seine schlanke, helle Stimme ist wie geschaffen für diese Partie. Die präzise Diktion, die subtilen Betonungen und die Ausdruckskraft Hans-Joachim Webers zogen den Hörer schnell in den Bann, ließen die langen Textpassagen nie langatmig werden.

Erstaunlich genug, dass es Weber gelang, über so lange Strecken unbegleitet die Intonation zu halten. In würdevoller Schlichtheit und suggestiver Kraft agierte neben ihm Klaus-Dieter Mayer als Christus. Sein dunkler Bass-Bariton ist ebenfalls eine Idealbesetzung. Dunkle Kraft in tiefen Lagen einerseits und schlanke, helle Höhen andererseits gaben Mayer die Gelegenheit, in großer Ruhe, mit viel Andacht und gelegentlichen Pathos-Anflügen die Christus-Worte zu singen.

Die Böblinger Kantorei schlüpfte in die Rolle des Volkes, der Hohepriester, der Jünger und Pharisäer. Die Präzision, die Sicherheit und die klangliche Homogenität des Chores war bewundernswert. Von Tilman Jäger hörbar gut vorbereitet, sang die Kantorei auf hohem Niveau - und stellte auch die zahlreichen Soliloquenten: Mägde, Pilatus, Caiphas und Judas konnten aus den eigenen Reihen mit sicherem Auftreten besetzt werden. Einziges Manko der Aufführung: Tilman Jäger wählte für die Chöre eine ruhige, bedächtige Lesart. Mit etwas mehr Mut, mehr Attacke in der Sprache, vielleicht auch grelleren Vokalfärbungen hätte man dem Eifer des Volkes, den giftsprühenden Anklagen der Schriftgelehrten und dem Gepolter der Hohepriester mehr Dramatik abgewinnen können. So aber entstand eine einstündige, kontemplative, gleichwohl sehr überzeugende, weil sicher gesungene Aufführung der Matthäus-Passion von Schütz, die am Karfreitag um 15 Uhr am selben Ort wiederholt wird.